Offener Brief der Diakonie Gütersloh und des DiakonieVerbands Brackwede - Stellungnahme zur angekündigten Aufhebung des Besuchsverbots in Pflegeeinrichtungen

Sehr geehrter Herr Minister Laumann,

 

sehr geehrte Damen und Herren,

 

 

 

die Corona-Pandemie stellt uns alle vor eine große Herausforderung. Es ist eine nie dagewesene Situation, die uns allen – als Bürger, als Arbeitnehmer, als Unternehmer, als Politiker, als Pflegebedürftige oder als Angehörige – extrem viel abverlangt. Nicht immer kann man da alles richtig machen. Haben wir so etwas doch noch nie erlebt. Gleichwohl möchten wir, die Diakonie Gütersloh gemeinsam mit ihrem Tochterunternehmen DiakonieVerband Brackwede, mit diesem Brief Stellung zur vorgestern angekündigten Aufhebung des Besuchsverbots in Pflegeeinrichtungen beziehen.

Als erstes vorneweg: Wir begrüßen es ausdrücklich und sind dankbar, dass schon bald wieder Besuche in Pflegeeinrichtungen möglich sein werden. Zu Recht war diese Einschränkung der persönlichen Freiheiten von Pflegeheim-Bewohner*innen stark umstritten. Gleichwohl hatten und haben wir vollstes Verständnis, dass diese im Sinne des Infektionsschutzes notwendig war. Was passiert, wenn das neuartige Corona-Virus in einem Seniorenheim auftritt, konnten wir alle den Nachrichten entnehmen. Und niemand von uns hätte sich eine solche Situation mit dem ganzen Ausmaß an schlimmen Folgen gewünscht – weder im eigenen Haus, noch in einer fremden Einrichtung.

Nichtsdestotrotz wollen wir mit diesem offenen Brief auch unseren Unmut und unser Unverständnis über folgende Punkte ausdrücken, die wir unten weiter ausführen werden:

  • Die Lockerung kam nicht überraschend – wohl aber die Kurzfristigkeit.
  • Die Frage der persönlichen Schutzausrüstung wurde nicht durchdacht.
  • Die Anforderungen sind nur mit hohem personellen Aufwand zu stemmen. Und ironischerweise dürften wir an Sonn- und Feiertagen, wenn es nach dem Gesetzgeber geht, eigentlich keine Betreuungskräfte einsetzen, um die Pflegekräfte zu verstärken. Siehe auch dazu weiter unten. 

Zu Punkt 1:

Dreieinhalb Werktage, um Angehörige und Bewohner*innen über die Maßnahmen und deren Umsetzung zu informieren, ggf. dort Zelte zu besorgen, wo die Räumlichkeiten Besuche anders nicht erlauben, Zeitpläne mit möglichen Besuchern abzustimmen und weitere – ohnehin knappe – Schutzausrüstung zu besorgen: Das ist einfach zu kurzfristig. In den vergangenen Wochen haben wir bereits viel getan, um Kontakte zwischen Bewohner*innen und Angehörigen zu ermöglichen – per Videotelefonie, per Fenstergespräch, per Kontakt über den Gartenzaun. Diese Möglichkeiten wurden bereits rege genutzt. Und da folglich der persönliche Kontakt nicht vollständig unterbunden war, hätten wir uns über einige zusätzliche Tage gefreut, um die Öffnung – ein gewichtiges und auch komplexes Vorhaben – mit angemessener Durchdachtheit anzugehen. Denn wie Sie selbst wissen: Die Pandemie ist nicht vorbei, das Virus nicht erledigt – und eine Infektion unserer pflegebedürftigen Bewohner*innen oder unserer Mitarbeitenden ist in jedem Fall zu vermeiden. Stattdessen riskiert das Land NRW, dass Pflegedienste auf die übereilte Lockerung mit übereilten Maßnahmen reagieren. Eine gefährliche politische Entscheidung, um mit dem Muttertag als Begründung beim Wähler zu punkten. Hoffen wir, dass dies ohne negative Folgen bleibt.

Zu Punkt 2:

Eng verbunden mit Punkt 1 ist Punkt 2 zu sehen – die Frage der erforderlichen Schutzausrüstung (PSA). Die Aussagen der vorgestrigen Pressekonferenz sowie das Ministerschreiben verstehen wir so, dass wir als Betreiber für die erforderliche PSA für Besucher*innen sorgen müssen – also für Mund-Nasen-Schutze sowie ggf. für Schutzkittel (beim Besuch im Bewohnerzimmer). Nicht erst seit gestern ist die PSA ein rares Gut. Mit viel Arbeit und unter Vorleistung hoher Investitionen konnten wir bislang Vorräte aufbauen, mit denen wir für den Pflegealltag sowie im Infektionsfall fürs Erste abgedeckt sind. Gleichwohl sind gerade Schutzkittel weiter schwer zu bekommen – und wir können das Risiko schlicht nicht eingehen, unsere Vorräte an Besucher*innen herauszugeben. So gern wir das auch tun würden. Denn sollte es zu einer Infektion mit dem Virus in einer Pflegeeinrichtung kommen, wird jedes Stück PSA dringend benötigt. Und seien wir ehrlich: Das Risiko einer Infektion wird im Zuge der Öffnungen nicht sinken. Wir fordern deswegen vom Land NRW, uns Betreiber hier zu unterstützen und die für Besuche benötigte PSA zur Verfügung zu stellen.

Übrigens: Es ist keine Lösung, die Verantwortung für das Beschaffen von PSA auf die Besucher*innen abzuwälzen. Einerseits haben sie ähnliche Beschaffungsprobleme wie wir – andererseits können wir als Betreiber nicht garantieren, dass die mitgebrachte PSA allen hygienischen Ansprüchen genügt. Wurden Masken z.B. ordnungsgemäß getragen und gewaschen? Gilt das Gleiche für die Kittel?

Zu Punkt 3

Die Öffnungen stellen Pflegeheim-Betreiber auch personell vor eine große Herausforderung. Müssen doch Besucher in Hygienemaßnahmen eingewiesen, Kurzscreenings vorgenommen und Treffen ggf. auch begleitet werden. All dies ist ohne den Einsatz von Betreuungskräften nicht zu leisten – gerade an den schmaler besetzten Wochenenden. Nun möchten wir hier jedoch von einer Erfahrung berichten, die wir im vergangenen Herbst im Zuge der Pflegesatzverhandlungen mit den Kostenträgern gemacht haben. Und zwar ging es um die Rolle der Betreuungskräfte, die in unseren Pflegeheimen Angebote für Musik und Gymnastik organisieren, Konzerte, Feste und mehr auf die Beine stellen. Sie begleiten die Bewohner*innen auf Wunsch zu Gottesdiensten in ihren Kirchengemeinden. Sie gestalten ihre Freizeit mit ihnen, begleiten sie zum Arzt, haben ein offenes Ohr. Pflegekräfte könnten dies ob der engen Personalschlüssel nicht leisten. Und gerade jetzt während der Pandemie sind die Betreuungskräfte noch unverzichtbarer als sie es ohnehin schon sind. So oder so wurde ihre Arbeit bislang auch von den Kostenträgern über eine entsprechende Refinanzierung voll anerkannt. Mit großem Erstaunen mussten wir nun feststellen: Dies ist nicht mehr so.

In unserer jüngsten Pflegesatzverhandlung mit den Kostenträgern wurde auf ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Dezember 2016 verwiesen. Demnach verstößt eine Beschäftigung von Betreuungskräften an Sonn- und Feiertagen gegen das Arbeitszeitgesetz. Diese seien deswegen nicht einzuplanen, und was an Betreuung anfällt, könne durch Pflegekräfte übernommen werden. Nicht nur, dass dies ob der engen Personalschlüssel für die Pflege in stationären Einrichtungen blanker Hohn ist. Wir empfanden auch den Umgang der Kostenträger mit diesem Urteil als, gelinde gesagt, schizophren. Sonn- und Feiertagszuschläge werden mit Verweis auf dieses Urteil nicht mehr refinanziert. Die normalen Lohnkosten hingegen schon. Und dass, obwohl der Einsatz von Betreuungskräften an Sonn- und Feiertagen angeblich einen Gesetzesverstoß darstellt. Hätte die Refinanzierung nach dieser Logik nicht eigentlich ganz eingestellt werden müssen?

Doch darum geht es uns nicht. Was uns vor allem stört, ist das Verständnis von menschenwürdiger Pflege, das hinter dieser Argumentation steckt. Haben Menschen in Pflegeheimen an Sonn- und Feiertagen kein Anrecht auf Betreuung? Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und der jetzt verkündeten Lockerungen gewinnt dieses Thema noch einmal ganz anders an Aktualität und Brisanz. Ohne Betreuungskräfte lassen sich die Vorgaben nicht umsetzen. Ohne die Betreuungskräfte würde es bei der akkuraten Umsetzung von Maßnahmen zu Hygiene und Infektionsschutz haken – etwas, was wir uns weder erlauben können noch wollen. Wir möchten Ihre Ankündigung vom Dienstag deswegen zum Anlass nehmen, um auf dieses aus unserer Sicht unsinnige Gesetzesurteil hinzuweisen und Sie aufzufordern, den Umgang mit dem o.g. Urteil durch die Kostenträger zu überdenken.

Wir würden uns freuen, wenn Sie uns Ihre Position zu diesen – für uns, für unsere Mitarbeitenden, für unsere Bewohner*innen – sehr wichtigen Themen erläutern und hoffen auf einen konstruktiven Austausch.

Mit freundlichem Gruß

Björn Neßler

Vorstand